Alchemisten und andere Finanzprofis
aus der Feder von Jörg Benecke,
Vorstand der Aktien-Gesellschaft für Historische Wertpapiere, Wolfenbüttel

Früher, da saßen einmal Männer mit tiefen Furchen im Gesicht in irgendwelchen Kellerverließen und tüftelten, wie man wohl künstlich Gold herstellen könne. Mal freiwillig, weil sie irgendeinen Dummen als Sponsor gefunden hatten, mal weniger freiwillig, weil irgendein Fürst von dieser Idee besessen war und entsprechende Spezialisten einfach im Keller einsperrte. Da lachen wir heute drüber. Immerhin wurde bei der Gelegenheit nebenbei ja wenigstens das Porzellan erfunden.

Heute, da sitzen Männer in Designeranzügen, manche mit gegeltem Haar, in glitzernden Wolkenkratzern und tüfteln, wie man auf dem Papier Zahlen mit möglichst vielen Nullen produziert. Sie werfen mit Begriffen um sich, daß die Finanzpresse und das Publikum aus dem Staunen gar nicht mehr herauskommt. ABS, SIV, Conduits sind in aller Munde. Wenn die Märkte „weder Fisch noch Fleisch“ sind, hat die Société Generale natürlich schon die Lösung: Korridor Bonus-Zertifikate! Keine Ahnung, ob die auch irgendwelche Knock-Out-Schwellen haben. Mal ehrlich: Versteht eigentlich irgendjemand, was er da kauft? Gehören Sie vielleicht zu der Anlegergruppe, die sich mit Zertifikaten nicht anfreunden kann, aber eine Einzeltitelauswahl ist Ihnen auch zu mühselig, greifen Sie deshalb einfach zu ETFs? Oder finden Sie auf dem gedrückten Niveau vielleicht sogar schon CDOs wieder eine Überlegung wert?

Bei allen, die den ganzen Tag nichts weiter tun als mit Zahlen zu jonglieren, kommt ein Wort erstaunlich häufig vor: Mehrwert. Kein Mensch scheint sich Gedanken darüber zu machen, ob das in dem Gewerbe überhaupt geht. Es ist doch eigentlich klar: Was bei Spekulationen der eine gewinnt, muß jemand anders verlieren. Und an der Börse sind exakt 50 % aller Entscheidungen falsch: Geirrt hat sich entweder der Käufer oder der Verkäufer. Dieses Gesetz ist genauso wenig außer Kraft zu setzen wie das Naturgesetz der Schwerkraft. Aller vermeintliche Reichtum, den die Finanzbranche glaubte in den letzten Jahren aufgetürmt zu haben, war nichts weiter als viele Nullen auf dem Papier. Jetzt, wo die heiße Luft zischend entweicht, dämmert das vielleicht dem einen oder dem anderen. Denn jetzt gilt ein anderes, dem Gesetz der Schwerkraft entsprechendes Naturgesetz der Börse: What goes up, must come down.

Wo ist der Mehrwert denn bloß geblieben? Immerhin kann man der Branche eine gewisse Selbstironie nicht absprechen. Schon macht das böse Bonmot die Runde: „There are two sides of a balance sheet: The left side and the right side. On the left side, there is nothing right. On the right side, there is nothing left.“

Mehrwert. Man muß sich das mal auf der Zunge zergehen lassen. Mehrwert, der sich nicht als substanzlose Nullen auf dem Papier definiert, kann niemals von Finanzmärkten erzeugt werden. Echter Mehrwert ist als Zuwachs an Wohlstand zu definieren. Der Mann, der im Werk Ihr neues Auto zusammenschraubt; der italienische Pizzabäcker um die Ecke; der Maurer, der ein neues Haus hochzieht; der Ingenieur, der eine Maschine erfindet, die schneller produziert; sie haben eines gemeinsam: Sie erzeugen direkt oder indirekt wirklichen Mehrwert, nämlich etwas Verbrauchbares.

Angeblicher Mehrwert der Finanzmärkte dagegen existiert nur auf dem Papier. Ihm steht am Ende in der Volkswirtschaft nichts gegenüber, das Sie verbrauchen oder genießen können oder das wenigstens dick oder besoffen macht. Solcher „Mehrwert“ ist nichts als heiße Luft. In aller Konsequenz zu Ende gedacht ist übrigens dieser künstliche, nur nominale Mehrwert, unterstützt durch eine sinnlos großzügige Geldpolitik besonders der Fed, vor allem eines: Inflation. Oder wie anders würden Sie den rasanten Anstieg von Rohstoff- und Lebensmittelpreisen nennen?

Die Finanzmärkte haben uns gerade die moderne Version des Märchens von des Kaisers neuen Kleidern gegeben. Jahrelang hat der Hofstaat begeistert geklatscht, als die großen Herrscher und die gegelten Jünglinge von Bear Stearns, UBS, Citigroup & Co. splitterfasernackt ihre Party feierten. Nur ein paar uneinsichtige Modernisierungsverweigerer auf dem Rübenfeld in Wolfenbüttel riefen ab und zu in ihren altmodischen Kommentaren: Die haben ja gar nichts an!

Jetzt, wo die Karre im Dreck liegt, ist eigentlich nur noch eine Frage auf höchst philosophischen Niveau zu klären: Was ist mit den horrenden Verlusten von Bear Stearns, UBS, Citigroup & Co.? Hat das Geld jetzt jemand anders, oder war es eigentlich sowieso nie da?

Dabei hätte doch ein kleiner Blick in die Finanzgeschichte genügt. So schrieb die kritische amerikanische Wochenzeitschrift „New Republic“ bereits einige Wochen vor dem 1929er Börsencrash: „Ein Dorf, dessen Bewohner davon leben, daß sie die Wäsche ihrer Nachbarn von der Leine klauen, ist nichts im Vergleich mit einer Nation, deren Bürger allesamt versuchen, ihren Lebensunterhalt mit Spekulationen auf die Produktivität ihrer Mitbürger zu verdienen.“

Über Jahrhunderte hinweg betrug, abgesehen von Krisenzeiten nach Kriegen und ähnlichen Katastrophen, die normale Kapitalrendite für Anlagen aller Art 4-5 % p.a. Wohlgemerkt: Über Jahrhunderte! Wer mehr erwartet oder gar versucht, „Produkte“ zu entwickeln, die mehr versprechen, der ignoriert Jahrhunderte an ökonomischer Erfahrung und verhält sich tatsächlich gar nicht anders als die Alchemisten im Mittelalter. Wie die Realität eine derartige Maßlosigkeit im Denken am Ende bestraft, erleben wir gerade.

 Es ist eben nicht gut für die Volkswirtschaft, wenn das Getriebe größenwahnsinnig wird und sich plötzlich für den Motor hält. Wesentlicher Teil der Abarbeitung der gegenwärtigen Krise wird deshalb auch sein müssen, daß die großen Banken wieder auf den Teppich zurückkommen und ihr Selbstverständnis passend zur ökonomischen Realität neu definieren. Einige von ihnen, wir sehen die Anfänge dieser Bereinigung ja schon, werden es in ihrer heutigen Gestalt nicht überleben. Und es ist auch nicht schade um sie.

Noch etwas deutlicher wurde übrigens schon vor 250 Jahren Benjamin Franklin: „Wer euch sagt, daß ihr anders reich werden könnt, als durch Arbeit und Sparsamkeit, der betrügt euch.“ Wohl war. Wohlstand läßt sich ebenso wenig künstlich herstellen wie Gold.


© Jörg Benecke, 2008
erschienen als Vorwort zu dem Geschäftsbericht 2007 der Aktien-Gesellschaft für Historische Wertpapiere, Wolfenbüttel