Der mit dem Wolf heult
aus der Feder von Jörg Benecke,
Vorstand der Aktien-Gesellschaft für Historische Wertpapiere, Wolfenbüttel

„Unschwer wäre es gewesen, die Erträgnisse durch ausnahmsweise Gewinne zu steigern, wären wir bei der uns so häufig gebotenen Gelegenheit zur Gründung neuer kommerzieller oder industrieller Unternehmungen mit minder strenger Auswahl vorgegangen und hätten wir, nur auf den momentanen Vorteil unseres Instituts bedacht, der allgemeinen Stimmung folgend, unsere Tätigkeit der Schaffung von Werten zugewendet, die mehr nur Material für Tagesspekulationen bieten, als Mittel sind, dem kapitalbesitzenden Publikum die Teilnahme an solide begründeten lukrativen Unternehmungen zu ermöglichen. Wir hätten damit, unserer Ansicht nach, sicherlich ebenso wohl dem so wertvollen Prinzip der Kapitalgesellschaft, als der Stellung unseres Institutes für alle Zukunft größeren Nachteil zugefügt, als durch momentanen Vorteil aufgewogen werden konnte.“

Noch nie musste ein Bankvorstand bestimmte Geschäfte nur deswegen machen, weil es alle anderen auch machen. Das obige Zitat beweist es. Es stammt, Sie werden es kaum glauben, aus dem Jahr 1872. So geschrieben hat es in ihrem Geschäftsbericht die Credit-Anstalt in Wien angesichts der Exzesse der Gründerzeit, in der die massenhafte Gründung wenig fundierter, oft sogar schwindelhafter Aktiengesellschaften den Anlegern am Ende im so genannten „Gründerkrach“ schwere Verluste zufügte. Damals gab es genug andere Banken, die um des kurzfristigen Profits willen das Spiel mitmachten. Nota bene: Fast alle, die meinten, alles vermeintlich Moderne mitmachen zu sollen, sind längst eingegangen. Die Creditanstalt dagegen, gegründet am 31.10.1855 auf Initiative des Bankiers Anselm Salomon Freiherr von Rothschild, wurde zur größten Bank der Donaumonarchie und lebt nach der Fusion 2002 in der Bank Austria Creditanstalt noch heute weiter.

Um des kurzfristigen Erfolgs willen gute Miene zum bösen Spiel zu machen ist auch für Top-Banker unserer Tage scheinbar selbstverständlich. „Wenn die Musik verstummt, was die Liquidität betrifft, wird es kompliziert. Aber so lange die Musik spielt, bleibt man auf den Beinen und muß tanzen. Und wir tanzen noch.“ Wenige Wochen vor dem Kollaps des Verbriefungsmarktes sagte das am 10.7.2007 Charles Prince, Vorstandschef der weltgrößten Bank Citigroup, in einem Interview der Financial Times Deutschland. Dabei ahnte er wohl kaum, daß er keine vier Monate später nach Milliardenverlusten seines Instituts auch selbst die Tanzfläche verlassen würde.

Wie Rothschild’s Creditanstalt beweist, lohnt es sich langfristig für eine Bank, nicht dem Rudel zu folgen und Skepsis zu bewahren gegenüber Modeerscheinungen der Finanzmärkte, deren Langfristwirkung niemand einschätzen kann. Groß ist das Heulen heute bei denen, die gierig waren nach vermeintlich höherer Rendite, aber nicht hinreichend urteilsfähig.

Erschreckend ist das Ergebnis einer aktuellen Studie der Zürcher Hochschule Winterthur. Fast 90 % aller institutionellen Anleger, die in Derivate, Zertifikate & Co. investiert haben, verstehen die Produkte überhaupt nicht. Sie folgen nur dem Herdentrieb, weil es alle anderen auch machen und weil sich niemand vorwerfen lassen will, er sei altmodisch. Wie viele Privatanleger die oft exotisch konstruierten Zertifikate in ihren Depots tatsächlich verstehen, das will ich lieber gar nicht erst hinterfragen.

Kein Verständnis habe ich für die Protagonisten exzessiver Kapitalmärkte, die uns weismachen wollen, alle diese Finanzinnovationen dienten dazu, die Märkte effizienter zu machen. Das Gegenteil ist der Fall: Je mehr volkswirtschaftlich nutzlose Cocktails in den Alchemisten-Stuben der Investmentbanker zusammengebraut wurden, desto mehr wurde das System destabilisiert. Vor dem zwangsläufig darauf folgenden Scherbenhaufen stehen wir nun.

Wir lachen heute über die Großen und Mächtigen des Mittelalters, in deren Laboren und Burgverließen die Alchemisten teils freiwillig, teils gezwungen versuchten Gold herzustellen. Künftige Generationen werden wohl über uns lachen, die wir mit beharrlicher Besessenheit an immer neuen mathematischen Modellen basteln, mit denen Investoren angeblich todsichere Überrenditen erzielen.

Die Modelle basieren auf Logik und Ratio, doch der Markt ist spätestens im Moment der Angst unlogisch und unvernünftig. Computer können alles simulieren, nur keine Unlogik. Darum ist jeder Versuch, ein Modell zu entwickeln, das im Ergebnis dem Markt überlegen ist, etwa so aussichtsreich wie die Entwicklung eines todsicheren Roulettespiel-Systems. Doch sogar Wirtschafts-Nobelpreisträger erlagen der Versuchung, genau das zu probieren, und scheiterten schon im Jahr 2000 spektakulär, als der Hedge-Fonds „Long-Term Capital Management“ mit seiner computergesteuerten Anlagestrategie binnen weniger Tage Milliardenverluste erlitt und zusammenbrach.

Schon das brachte damals die Weltwirtschaft ins Schlingern und war der Beginn einer bis heute nicht mehr unter Kontrolle gebrachten Liquiditätsblase, die den Notenbanken mit Alan Greenspan an der Spitze die einzig mögliche Rettung schien. Interessant ist, daß dieses Scheitern nicht als Indiz der Unmöglichkeit des Versuchs begriffen wurde, sondern daß es die geistigen Nachfolger von LTCM nur noch umso toller trieben, weil die Notenbanken nicht mehr zurück konnten und die Politik keinerlei regulatorische Konsequenzen zog.

Der gemeinsame Irrtum von Alchemisten und Finanzmathematikern ist ihr Glaube, Wohlstand ließe sich künstlich oder als monetäre Größe rechnerisch erschaffen. Falsch: Wohlstand resultiert einzig und allein aus Fleiß und Arbeit vieler Menschen, die etwas produzieren, das andere Menschen benutzen, verbrauchen oder genießen können. Eine Zinseinnahme dagegen oder ein Kursgewinn ist kein Wohlstandszuwachs, denn die Gegenpartei bezahlt und erleidet ganz zwangsläufig einen ebenso hohen Wohlstandsverlust. Auch unter dem Aspekt der Wirtschaftsethik kann man also schon einmal darüber nachdenken, warum die großen Religionen lange Zeit die Zinsgeschäfte verboten haben. Unsere Urväter, die sich Regeln für das Miteinander der Menschen ausdachten, waren ja nicht dumm.

Ausschließlich zur Vermittlung von Kapitalangebot und -nachfrage haben Finanzmärkte natürlich eine Existenzberechtigung. Doch jede darüber hinausgehende Betätigung dieser Branche, vor allem die Schaffung eigener „Produkte“, ist unter dem Aspekt des volkswirtschaftlichen Wohlstandes ein Nullsummenspiel, die dafür aufgewandte Arbeitsernergie ist verschwendet. Je mehr Gewicht wir einem so entarteten Finanzsektor beimessen, desto mehr Wohlstand vergeuden wir tatsächlich. Wer glaubt, durch Spekulationen einen volkswirtschaftlichen Mehrwert schaffen zu können, der ist genau so naiv wie jeder Sozialromantiker, der meint, für die Sozialausgaben habe der Staat unendlich tiefe Taschen und Geld sei doch genug da, man müsse es den Reichen nur wegnehmen.

In der schlimmen Zeit nach der Hyperinflation 1923 trug ein Spargutschein der Nassauischen Sparkasse, wie er üblicherweise zu Taufen, Kommunionen und Konfirmationen verschenkt wurde, die Umschrift: „Wer euch sagt, daß ihr anders reich werden könnt als durch Arbeit und Sparsamkeit, der betrügt euch.“ Es ist ein Zitat des amerikanischen Staatsmannes Benjamin Franklin (1706-90), dessen Urteilsfähigkeit zum Thema Menschen und Geld ich bewundere. Ebenso zeitlos und zur gegenwärtigen Liquiditätskrise im Bankensystem passend ist ein anderes Zitat von ihm: „Wenn Du den Wert des Geldes kennenlernen willst, versuche, Dir welches zu leihen.“

Es ist schon aberwitzig, daß die Notenbanken und am Ende ja die ganze Gesellschaft jetzt die Zeche zahlen müssen, weil der Zusammenbruch des Spielsalons die noch schlimmere Alternative wäre. Ohne Zweifel gehört der Spielsalon aber geschlossen. Warum haben wir Menschen bloß ein so kurzes Gedächtnis? Aus den Erfahrungen der Bankenkrise, deren Beginn in Deutschland 1931 der Zusammenbruch der Darmstädter und Nationalbank war, folgte das gesetzliche Verbot aller Börsentermingeschäfte und Leerverkäufe. Damit sind wir gut gefahren: Das „Wirtschaftswunder“ fand statt, obwohl man damals keine einzige Aktie auf Termin handeln konnte und Leerverkäufe bei Strafe verboten waren.

Unsere heute weitgehend unregulierten Finanzmärkte dagegen sind ein in das finale Desaster führender Irrweg. Es gibt keinen Grund, zu hoffen, daß vor allem in der Weltpolitik die Spätfolgen von Weltwirtschaftskrise und Bankenkrach heute wesentlich anders wären als sie 1931 waren. Sie waren damals schrecklich genug. Hier helfen nur klare Beschränkungen der Spekulationsmöglichkeiten, denn ich werde Ihnen gleich noch nachweisen: Solange man die Akteure an den Finanzmärkten läßt, werden sie das Spiel mit dem Feuer immer wieder beginnen.

Natürlich hätte man auch heute das unvermeidliche Ende wissen und ahnen können. Charles Prince, der Chef der Citigroup, hat es ja in seinem legendären FTD-Interview am 10.7.2007 ganz unverblümt ausgesprochen. Was ich ihm allerdings nicht verzeihe, ist die Bereitschaft, wider besseres Wissen das böse Spiel bis zum bitteren Ende mitmachen und zu tanzen, bis die Musik aufhört zu spielen. Verantwortungsbewußte Wirtschaftsführer reden und handeln anders. Wer bereit ist, die „Reise nach Jerusalem“ zu spielen, hat an der Spitze einer Bank nichts zu suchen.

Sehr recht hat Josef Ackermann, wenn er diejenigen Bankvorstände kritisiert, die Geschäfte gemacht haben, deren Risikogehalt sie nicht einzuschätzen vermochten. Sehr recht haben aber auch die Stimmen, die empfehlen: Wenn es gerummst hat, soll sich nicht als Brandschutzexperte äußern, wer zuvor Feuerwerk verkaufte. Solange ihre teils hochexplosiven Investment-Cocktails an den Mann zu bringen waren, hat auch die Deutsche Bank kräftig mitgemischt.

„Der Krug geht zum Brunnen, bis das er bricht.“ Wieder einmal hat sich diese uralte Erkenntnis in der jüngsten Finanzkrise bewahrheitet. Und natürlich wußte die Deutsche Bank ebenso gut wie die Citigroup, daß es so kommen würde, so kommen musste.

Am 17.10.1907 führte der finanzielle Zusammenbruch eines großen Kupferspekulenten in den USA (sic!) zu einem Run auf die Banken. In kurzer Zeit brachen allein in New York 10 Banken unter dem Ansturm der Einleger zusammen, und die Krise griff auf Europa über. Sie war kaum überstanden, da fiel ein wirklich bemerkenswerter Satz: „Wir sind in der Verfassung eines Mannes, der zuviel Champagner getrunken hat und am nächsten Tag an Seekrankheit leidet. Zuerst unterwirft er sich selbst einer strengen Diät oder sie wird ihm von seinem Arzt verordnet, dann beginnt er, leicht verdauliche Nahrung zu sich zu nehmen, bis er nach einer gewissen Zeit zu Rindfleisch und Burgunder zurückkehren und schließlich wieder Exzessen frönen wird.“

Der dies 1907 an Edward D. Adams schrieb, den New Yorker Repräsentanten seines Hauses, war immerhin Arthur von Gwinner, einer der Vorgänger von Josef Ackermann im Vorstand der Deutschen Bank. Für die Öffentlichkeit bestimmt war diese bis heute zutreffende Einschätzung seines Berufsstandes im ewigen Spannungsfeld zwischen Gier und Angst schon damals nicht.

Dabei beweist das beeindruckende, inzwischen 135 Jahre alte Beispiel der Creditanstalt, daß es auch anders geht. Kein Banker muß mit den Wölfen heulen. All unsere historischen Erfahrungen sind doch ein ausreichend großer Fundus für ein differenziertes eigenes Urteil. Man muß die Geschichte nur kennen. Wie wäre es mit einem Aufdruck auf sämtlichen Derivaten, Zertifikaten und anderen nur zur Schröpfung des Publikums geschaffenen Kunstprodukten ohne Basis in der Realwirtschaft? „Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die B&R-Kataloge und fragen Sie einen Sammler historischer Wertpapiere.“ Man kennt das übliche Ende angeblich so moderner Finanzinstrumente schon vorher.

Bei dem grauen Wetter draußen macht es sicher Spaß, die eigene Sammlung durchzublättern, bei der einen oder anderen Geschichte drumherum hängenzubleiben, eigene Erkenntnisse zu gewinnen durch die Beschäftigung mit Historischen Wertpapieren, die weit mehr sind als nur bunte Bildchen. Sie sind lebendige Geschichte, und ein Spiegel, in dem wir das Heute wiedererkennen.

Eine schöne und besinnliche Adventszeit wünscht Ihnen

Ihr

Jörg Benecke


© Jörg Benecke, 2007
erschienen als Vorwort zu dem Katalog "1001 Wertpapiere"